linie 8
1999
Wahrhaftige (Stadt-)Entwicklungsplanung ist konzeptuelle Interpretation
Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, sich von den
historischen Bildern des Moritzplatzes um 1900, 1910 bis hinein in die
30er Jahre zu lösen. Industrie, Gewerbe, Wohnen, Verkehr, Cafés und
Räume für Festlichkeiten; und vor allem Menschen, die den Platz mit
Leben füllen - vitales Stadtleben mit den Problemen und Krisen seiner
Zeit, die man auf Bildern nicht sieht. Das Druckhaus Elster, zunehmend
Bankfilialen, Tanzcafés und Theater sind Produkte der Citybildung in den
zwanziger Jahren. Konfektionshäuser, Wertheim und Co sorgen für
die Verdrängungsprozesse die heute die Shopping-Malls, Passagen
und Arkaden übernehmen. An der Ökonomie der Stadt hat sich nichts
geändert. Die Häuser werden zunehmend mit Werbetafeln verkleidet. Mit
dem Bau der Nord-Süd-Untergrundbahn wird der Platz radikal umgekrempelt:
Die Autos fahren seitdem außen herum, die Mitte blieb der Straßenbahn
mit ihren 18 Tramlinien vorbehalten. Viele Menschen füllen seitdem den
Untergrund und nicht mehr den Platz. Wie schwer dieser Verlust wiegt,
kann am Heinrichplatz nachvollzogen werden. Die Berliner City hat das
östliche Kreuzberg auch in der Folgezeit nie erreicht, was ihm Bomben
ersparte. Der Moritzplatz als äußerer Dreh- und Angelpunkt der Berliner
City geht dagegen im Bombenhagel unter. Demonstrativ und gnadenlos
werden die Reste beiseite geräumt. Mit dem was war hat man nicht sehr zu
tun. Otto-Suhr-Siedlung und später das Springerprojekt folgen dem neuen
Ideal der gegliederten und aufgelockerten Stadt. Die eine will mit
5.000 Einwohnern „ideale Nachbarschaftsgröße“ sein. Wer in aller Welt
hatte in seinem Leben schon mal 5.000 Nachbarn? Die Oranienstraße als
Stadtraum wird aufgegeben.
Totalverlust: Menschen und Gebäude wenden sich ab. Die Südtangente bleibt uns erspart. Die IBA bessert nach.
Axel Springer Multimedia, Spittelmarkt, Innenhöfe, Engelbecken - Nur ein Steinwurf noch...
...ist die City entfernt. Entwicklungsrichtung Moritzplatz. Entwicklungskorridor: Mauerstreifen - Heinrich-Heine-Straße. Die Suhr-Siedlung wird zum Puffer. Ein Durchmarsch der Büroprojekte - wir zählen rund 20 Bauvorhaben in der weiteren Umgebung - ist aus aus der historischen Richtung bis auf weiteres nicht zu erwarten.
Drehscheibe und Trennscheibe
Ein Quadratkilometer Stadt und in der Mitte der
Moritzplatz. Vom Verkehr umzingelt, dass einem in den Stoßzeiten
schwindelig wird. Und dem autofahrenden Volk ist eines gemein: Ihr Ziel
heißt nicht Moritzplatz. Aus dem Untergrund steigt ebenfalls kaum jemand
empor. Hades ist oben.
Wer den Platz studieren will, muss sich
einen Standort suchen. Stadtmöbel gibt es nicht (mehr). Wer die Straße
überqueren will, muss sie unterqueren. Wer länger hinsieht stellt
allerdings fest, dass kaum ein Mensch von dieser Möglichkeit, die in
alle Richtungen besteht, Gebrauch macht. Zu unterschiedlich sind die
Quartiere in die vier Richtungen, streng genommen sechs, auf die sich
der Platz bezieht. Im Süden wohnt erst hinter der Ritterstraße überhaupt
wieder jemand. Das SO36 hat den Leuten aus der Otto-Suhr-Siedlung
nichts zu sagen. Umgekehrt gilt wohl das Gleiche. Beziehungen zwischen
den verschiedenartigst konditionierten Kreuzbergern und den Leuten aus
der Heinrich-Heine-Straße sind ebenfalls nicht erkennbar. Mit dem
Durchbruch Axel-Springer-Straße am Spittelmarkt wird die
Stallschreiberstraße als Radwegverbindung an Bedeutung gewinnen. Früher
gingen die Leute zu Fuß dorthin. Die Verkehrsverdopplung in der
Lindenstraße auf dann 40.000 Autos am Tag wird den Moritzplatz nicht
entlasten - im Gegenteil.
Die Luisenstadt ist kein Gewerbegebiet
Schon gar nicht die Blöcke, die den Moritzplatz südlich umgreifen. Sicher, die ansässigen Unternehmen möchten sich teilweise vergrößern und bauen aus, wie z.B. Berliner Schrauben. Dagegen ist nichts einzuwenden. Was der Moritzplatz aber braucht, sind Bewohner. Mantelbevölkerung. Auf seiner Südseite wohnt fast niemand. BEP und FNP sollten deshalb entsprechend korrigiert, die Farbe Grau durch das MI-Braun ersetzt werden. Auch innerhalb dieses planungsrechtlichen Rahmens lassen sich die alten Fabrikkerne erhalten und entwickeln.
Hat jemand Angst vor der nahenden City?
Heute wie damals gab und gibt es keine Anzeichen,
dass sich die Luisenstadt über den Moritzplatz hinaus überformen wird.
Sie wird und darf in den Blöcken auslaufen. Jede Durchmischung ist ein
Gewinn. Planen sollen wir da, wo es erforderlich ist. Das Planwerk
Innenstadt kann auch den Moritzplatz in seinen geplanten
Vertiefungsbereich aufnehmen. Das Thema wird wieder aktuell.
Blockrandschließung im städtebaulich indifferenten, westlichen Teil der
Luisenstadt sind es weniger. Wie städtebaulich unbefriedigend man dieses
Kreuzberger Konglomerat auch immer bewerten mag, es ist gewachsen.
Optionen
an die Struktur, wie die Umstellung des Lobecksportplatzes, nehmen dem
Wohnort von 5.000 Einwohnern in der unmittelbaren Umgebung mehr Qualität
als sie bringen. Auch dieser Ort hat so wie er ist seine Atmosphäre.
Der Alltag am Moritzplatz passt wenig zu den Optimismus versprühenden Baustellen in der Umgebung auf ihrem stahlbewehrten Weg nach oben
Samstag, 12:00 Uhr, Wertheim-Grundstück - das bewusste. Staubig der Untergrund, matschig im Regen. Nirgendwo in der Stadt gibt es einen Ort, an dem Nützliches preiswerter verkauft wird. Alles für den Haushalt und viel Kleidung. Die Leute decken sich ein. Ich verstehe ihr Handeln, nicht immer ihre Sprache. Kiezmarkt - Armenmarkt sagt das Volk. Ein Gitter sperrt die Leute in der Woche aus. Die zurückgelassenen Verkaufsstände warten auf das nächste Wochenende. Und außen am Gitter wirbt Jim Knopf für Reisen in die Welt - wofür auch sonst. Vorboten der Citybildung - mit gut ausgeprägtem visionären Vorstellungsvermögen. Der Einzelhändler und der „Kiezmarkt“ sind heute also das Einzige, was den Moritzplatz temporär mit Leben füllt. So etwas nennt man Anknüpfungspunkte, ob uns das gefällt oder nicht.
Destination Moritz Plaza
Der Verlust an Menschen wiegt schwerer als der Verlust des Platzes an sich und seines städtebaulichen Umfeldes. Die Antwort auf die Frage, in welcher Reihenfolge das urbane Leben an den Platz zurückkehrt, hat der „Kiezmarkt“ uns bereits abgenommen. Moritz Plaza, merkantiles Treiben eingeschlossen. Der Kiezmarkt passt schwerlich zu diesem Image. Wichtig sind sie, die gut erreichbaren Orte, an denen sich die steigenden Zahl der Schlechtverdienenden versorgt. Ortsgebunden sind sie nicht. Der Moritzplatz hat seinen Beitrag geleistet. Bereiten wir den Raum vor, ohne ihn zu verbauen. Der Morirzplatz muss wieder Ziel werden, darf nicht Durchgangsstation bleiben. Ein Weg zum Ziel ist die Linie 8 mit ihrem Bahnhof unter der verlorenen Platzmitte. Wer den Moritzplatz entwickeln und nicht nur ein Grundstück bebauen all, muss hier anfangen, die Lageenergie als Katalysator, und den U-Bahnhof als Startraum begreifen. Das ist unsere Position.
Nur unverwechselbare Orte bleiben in Erinnerung
und stiften Identität. Die Behrensche Halle wird im
Zusammenspiel mit der Diagonalen der alten Stallschreibergasse Dreh- und
Angelpunkt. Die Platzmitte wird zurückgewonnen und Barrierefrei mit den
Platzräumen an ihren Rändern verknüpft, wie die Mitte einer Waagschale.
Nur
ein sich öffnender Raum ist öffentlicher Raum. Der Moritzplatz öffnet
sich horizontal und vertikal. Die Eingangshalle wird zur Galerie, von
Tageslicht durchströmt bis auf den Bahnsteig. Kunst in der Halle
erwünscht, liebes Museum für Verkehr und Technik. Viel Spielraum lässt
er nicht, der amorphe Klotz des Bechstein-Gebäudes. Die Schließung der
Platzkante als vis-à-vis zur historischen Restbausubstanz liegt nahe.
Die grüne Seite des Platzes soll grün bleiben, nur nutzbarer werden. Die
Glasfassade des Gewächshauses wendet sich dem Platz zu, sorgt für Ruhe
und abgasfreies Atmen, und hält dabei den visuellen Kontakt zum Platz in
der Mitte. Hier kann man sich aufhalten. Die Moritz Plaza soll den
Platz als Adresse etablieren. Kulturelle Folgenutzungen sind erwünscht,
würden den Platz auch nach Ladenschluss mit Menschen bereichern.
Wer
künstliche Innenwelten will, soll sie woanders bauen. Die Moritz Plaza
soll kein Hinterhof werden. Neue Fassaden erzeugen kein städtisches
Leben, schon gar nicht wenn sich dahinter ein Büro- und Geschäftshaus
verbirgt. Öffentlicher Raum muss sich auch unmissverständlich zeigen.
Einigkeit.
linie 8
Positionen Junger Berliner Planer
Idee & Organisation: Gruppe 6 Architekten, 1999
mit: Reinhold Zemke, Elisabeth Grothe, Stefan Peters, Carsten Steinmann, Joeri Borstlap, Holger Pietschmann, Hans-Martin Pfohl